Montag, 13. Juli 2015

Welt-Wirtschaftsflüchtlinge

Es ist die heißeste Zeit des Tages, früher Nachmittag vor der Turnhalle der Hauptschule. Ich sitze mit 7 jungen Männern auf einer Bierbank. Jeder hat Stift und Papier dabei: Deutsch-Unterricht. Fast alle aus „meiner“ Gruppe sind gekommen, wie jedes Mal. Da ich auch Französisch spreche, hat es sich so ergeben, dass ich „die Franzosen“ unterrichte. Sie kommen aus Mali und dem Senegal. Es gibt ein Lehrbuch für Asylbewerber, aber ich habe mich mehr und mehr davon entfernt. Denn es ist für mich - wie auch für meine Schüler - viel interessanter, über das Gespräch und das, was uns bewegt, die Tür zur deutschen Sprache zu öffnen.
Ich staune, wie aufnahmefähig die meisten sind. Lauter wache Augen schauen mich an. Es gibt immer viele Fragen, und daraus spinne ich den Faden für den Unterricht. Alle schreiben eifrig mit.
Dieses Mal habe ich ein Arbeitsblatt vorbereitet mit Fragewörtern. Denn ich denke, es schadet nicht, wenn sie auf Fragen bei ihrer Anhörung ein wenig auf Deutsch antworten können. „Warum seid ihr nach Deutschland gekommen?“
Mit einem Mal verdunkeln sich die Mienen...
Warum ich das wissen will, werde ich gefragt.
Es interessiert mich einfach, und ich möchte die Motive dieser jungen Männer verstehen, die für eine bessere Zukunft den Horror der Flucht auf sich genommen und ihr Leben riskiert haben.
„Weil die Probleme in der Heimat zu groß waren.“ „Ohne Arbeit gab es kein Leben.“
Ich frage nach und erfahre: zwei Maurer sind darunter, ein Bäcker, ein Schneider, ein Mechaniker. Ehrbares Handwerk also. Und zwei Studenten.
Mir liegt auf der Zunge, zu sagen: Man wird euch in Deutschland nicht haben wollen. Es lohnt sich nicht einmal, deutsch zu lernen. Denn der Senegal gilt als „sicheres Herkunftsland“. In Mali herrscht zwar ein blutiger Bürgerkrieg, aber ob das für ein Bleiberecht ausreicht? Ihr werdet hier als „Wirtschaftsflüchtlinge“ angesehen, die nur von unseren Wohlstandssegnungen schmarotzen wollen. Armut ist keine anerkannte Fluchtursache. Und schließlich können wir ja nicht alle aufnehmen.
Ich verkneife es mir. Es tut mir weh.
Und ich habe einen Traum: Was wäre, wenn wir diesen hoch motivierten und intelligenten jungen Menschen eine Zusatzausbildung nach europäischem Standard und Arbeitserfahrung ermöglichen würden? Was, wenn die Studenten ihr Studium hier fortsetzen könnten? Wird nicht oft über Fachkräftemangel geklagt, gerade im Handwerk? Was wäre möglich, wenn diese gut ausgebildeten Afrikaner ihr europäisches Knowhow in die Heimat zurücktragen und dort helfen würden, ein entwickeltes und modernes Afrika aufzubauen? Kann es eine effektivere Entwicklungshilfe und Fluchtprävention geben?

Noch scheint die Gesetzeslage eindeutig: Wer nicht vor Krieg und Verfolgung geflohen ist, wird abgeschoben. In einiger Zeit werden diese jungen Männer mit all ihrem Potenzial in Abschiebehaft sitzen. Wer arm ist, fliegt raus. Geschlossene Gesellschaft in Deutschland und Europa?

Nein, es gibt neue Perspektiven. Das Bundesamt für Migration und die Bundesagentur für Arbeit haben im letzten Sommer ein Pilotprogramm gestartet, das in neun deutschen Städten, darunter in Augsburg, etwas Neues versucht und vielleicht zu einer Wende in der Migrationspolitik führen könnte: „Early Intervention“ spricht Asylbewerber schon kurz nach ihrer Ankunft an, fördert sie z.B. durch Deutschunterricht und erleichtert ihnen die Aufnahme einer Beschäftigung. Frühzeitig werden motivierte und qualifizierte Menschen erfasst, wodurch sich viele Probleme entscheidend verbessern lassen.

„Unsere“ Jungs hier in Pullach werden nicht mehr in den Genuss möglicher Neuregelungen kommen. Denn die Mühlen mahlen langsam, und jede Veränderung braucht Zeit. Immerhin
bekommen sie – Stichwort ‚Willkommenskultur’ – schon ein wenig von dem gesellschaftlichen Wandel zu spüren, der solchen gesetzlichen Maßnahmen zugrunde liegt.

In einem Dokument der Vereinten Nationen, dem United Nations Development Programme, heißt es im „Bericht über die menschliche Entwicklung 2009“: Die Möglichkeit, darüber zu entscheiden, wo man leben will, ist ein wesentliches Element menschlicher Freiheit.
Bis diese Möglichkeit nicht nur den Angehörigen der reichen Industrienationen zusteht, ist es noch ein weiter Weg.

Hedwig Rost

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