Freitag, 31. Juli 2015

Gewinnchancen

Seit 2 Monaten sind die Pullacher Flüchtlinge in mein Leben getreten. So fühlt es sich für mich an. Ich biete meine Dienste an mit Deutschunterricht und Begleitung bei wichtigen Terminen. Darüber hinaus aber vertrauen mir mehr und mehr dieser hier gestrandeten jungen Menschen ihre Lebensgeschichte an. Das ist meistens tief erschütternd, aber gleichzeitig beglückend, weil ich mich daran freue, wie mit wachsendem Vertrauen die Traurigkeit und Verlorenheit aus vielen der Gesichter weicht. Ich kann sagen, dass mit vielen inzwischen eine tiefe Verbindung entstanden ist.
Kürzlich gelang es mir, zweien meiner besonderen „Schützlinge“ aus Westafrika einen großen Wunsch zu erfüllen: Meine 19jährige Tochter und ich nahmen sie mit aufs Land und an den Starnberger See.
Es ist einer der heißesten Tage dieses Sommers. In Holzhausen zeige ich ihnen das wundervolle Wallfahrtskirchlein und hoffe, dass der Ort für sich selbst spricht. Lange sitzen wir in dem bäuerlich naiv gestalteten Kirchenraum, genießen die Kühle und Stille und kommen ins Gespräch. Die beiden sind Muslime. Wir betrachten geflügelte Engel und eine Madonna und es gelingt mir, ein paar der dargestellten biblischen Geschichten zu erklären. Glücklicherweise kenne ich einige Berührungspunkte zwischen Koran und Bibel. Dies alles ist neu und fremd für die beiden jungen Männer, die soeben den Ramadan hinter sich gebracht haben. Sie staunen über die Darstellung Gottes als alten Mann und wir kommen ins Philosophieren. Wie kann man sich Gott vorstellen – und darf man das überhaupt? „Gott ist in allem“, sagt einer. „Ja“, denke ich, „wenn man ihn hereinlässt.“
Hoch zufrieden fahren wir an den Strand. Zum Glück ist das Wasser warm genug für die beiden Afrikaner. Während die „Jugend“ sich nun schon fröhlich im See vergnügt, komme ich, bis zu den Knien im Wasser stehend, mit einer Frau ins Gespräch, die mich fragt, ob das denn Flüchtlinge seien und mit welcher Motivation ich mich mit ihnen abgebe. „Meine Eltern waren auch Flüchtlinge“, sagt sie, „Sudetendeutsche. Deshalb hat mich dieses Thema geprägt. Aber ich finde es nicht gut, wenn nun wieder so viele traumatisierte Menschen hier ankommen. Lieber soll man dafür sorgen, dass die Meere vor der westafrikanischen Küste nicht von europäischen und kanadischen Fangflotten leer gefischt werden und dass der Klimawandel die Verwüstung in Afrika nicht fortschreiten lässt“. Wie recht sie hat! Sie beginnt, mir sehr sympathisch zu werden. „Aber bis dahin“, wende ich ein, „betrachte ich es als unsere Aufgabe als Mitverursacher der Flüchtlingsströme, die Menschen, die bei uns Zukunft suchen, aufzunehmen.“ Plötzlich verfinstert sich meine Gesprächspartnerin. „Ja, aber… Sie sind so fremd. In der Nachbarschaft meiner Eltern wohnen jetzt Flüchtlinge. Das ist unzumutbar und eine Wertminderung ihres Hauses.“ Daher weht also der Wind? Ich merke, wie ich wütend werde. „Wenn Sie so denken, möchte ich das Gespräch nicht fortsetzen“, sage ich und gehe schwimmen.
Nun mache ich mit den jungen Leuten Picknick am Strand. Wir spielen zusammen afrikanische Spiele mit Steinchen und Blättern. Was für eine Freude für alle! Meine Gesprächspartnerin lagert in der Nähe und „linst“ immer wieder zu uns herüber. Als die Sonne sich senkt, machen wir ein paar Fotos im Abendlicht. Da steht sie auf und bietet sich als Fotografin an. „Ich war sehr skeptisch am Anfang“, gesteht sie mir, „aber die beiden sind ja derartig nett! Sie haben völlig recht: Persönliche Begegnung ändert alles. Nun habe ich richtig Lust, zu helfen.“ Es stellt sich heraus, dass sie aus Grünwald kommt. Wir tauschen Adressen aus und sind seither in regem Mail-Wechsel. Sie bemüht sich, Arbeitsmöglichkeiten zu finden, wenn die Sperrfrist abgelaufen ist, und Kontakte zu ihren Freunden herzustellen.
Ich spüre deutlich: Das ist kein Mitleid mit den „armen“ Flüchtlingen, was sie antreibt, sondern Freude an der Begegnung mit diesen Menschen aus einer anderen Welt.
Alle haben an diesem Tag gewonnen: die beiden Jungs aus Afrika, meine Tochter und ich und unsere neue Freundin aus Grünwald. Plötzlich denke ich an unser Gespräch im Holzhausener Kirchlein zurück. Ja, wir haben uns gegenseitig Einlass gewährt – eine Win-Win-Situation könnte man das nennen.
Die Bundesregierung diskutiert über ein neues Einwanderungsgesetz. Justizminister Heiko Maas sagte dabei: „Flüchtlinge können ein Gewinn sein.“
Damit mag vor allem der ökonomische Aspekt gemeint sein. Ich möchte aber annehmen, dass alle Pullacherinnen und Pullacher, die sich für unsere Flüchtlinge engagieren, dies auch im Blick auf die zwischenmenschlichen Begegnungen bestätigen werden.
Was wäre alles gewonnen, würden wir diesen offenen, freundlichen und motivierten Menschen in unserem Land Einlass gewähren!

Hedwig Rost

Montag, 27. Juli 2015

IM ABSEITS (Deutschland 2015 - 94 Min.)

Vorspann: An einer S-Bahnschranke steht eine lange Autoschlange. Zug fährt durch, Schranke bleibt unten. In einem SUV ein genervtes Telefonat: 'Ich schaff den Termin nicht, wir verschieben alles auf morgen!' Zug in der Gegenrichtung, die Schranke bleibt unten. Der Fahrer sieht auf der Seite ein Fußballfeld -  Afrikaner beim Spiel. Aus einer Laune heraus wendet er den SUV, stellt das Fahrzeug auf den P&R-Parkplatz, geht an den Spielfeldrand. Eine S-Bahn fährt durch, dann der Filmtitel und die Namen der Mitwirkenden. Die Schranke bleibt unten.

Film: Der Fahrer steht am Spielfeldrand, raucht nervös und telefoniert, laut und verärgert. Der Zuschauer erfährt: Der Mann ist Spielervermittler und Talent-Scout. Das Spiel, bis jetzt eher schemenhaft, kommt jetzt wirklich ins Bild, und vor allem zwei Spieler fallen ins Auge. Ballstreichler, athletisch und mit intuitivem Zusammenspiel. Ein Tor fällt. Der Scout lässt sein Smartphone sinken und beobachtet zunehmend gebannt die beiden Spieler. Der Gesprächsteilnehmer ist noch dran, wundert sich über die lange Pause, bis der Scout sagt: 'Aber ich glaub, ich hab da was anderes, ich melde mich wieder.'
Spiel ist vorbei, der Scout geht auf die beiden zu, spricht sie an. Sprachengemisch, Übersetzungsfehler, Missverständnisse. Adresse notiert, Einladung zum Probetraining, 'Ich hole euch morgen da ab.'

Nächster Tag: Die Adresse ist eine Turnhalle, Stockbetten, Scout wird beäugt und gleich von jemandem aggressiv angegangen, weil gestern irgendwas mit dem Essen  nicht gepasst hat. Hätte seinen SUV vielleicht besser um die Ecke parken sollen. Die beiden Spieler vom Vortag kommen, steigen ein, staunen über den Wagen.
Probetraining - die beiden spielen alle einfach an die Wand. Jahrhunderttalente! Didier Drogba im Doppelpack!

Vorschau: Wie könnte es weitergehen? Leider sind die beiden aus einem sicheren Herkunftsland, also droht Abschiebung. Aber bei solchen Spitzen-Sportlern kann man doch auch mal fünfe gerade sein lassen, und der Scout hat Beziehungen ... Allerdings ziehen die Beziehungen plötzlich nicht richtig mit, das böse Wort 'Wirtschaftsflüchtlinge' fällt, und da könnte doch jeder kommen ... Der Scout beschwört für die beiden eine große Zukunft bis hin zur Nationalmannschaft, na gut: Die Duldung wird verlängert. Es folgen noch ein paar Probleme und Verwicklungen, schöne Spielszenen, etwas Sportglamour, die beiden kommen schließlich groß raus, am Ende sieht man die anderen aus dem Lager mit ihren Rollkoffern zum Bahnhof gehen, die Schranke geht runter.

Ausblick: Ja, beim Sport kann es manchmal etwas schneller gehen mit der Aufenthaltsberechtigung, der Arbeitsgenehmigung und sogar mit der Einbürgerung. Das ist gesellschaftlich akzeptiert, doch vor diesem Hintergrund wird die Unaufrichtigkeit, mit der die Flüchtlings- und Zuwanderungsdebatte häufig geführt wird, besonders deutlich. Das Ganze ist natürlich ein Märchen, aber wer kürzlich die 'Pullacher Flüchtlinge' beim Baierbrunner Sommerlauf erlebt hat (1./2./3./4./6./7./9./10.Platz über 7,5 km), dem kommen auch schon mal solche Filmszenarien in den Sinn.

Abspann:  Zwei Tage nach diesem Post wird in verschiedenen Medien über Ousman Manneh berichtet: 'Vom Flüchtlingsheim in Richtung Bundesliga' - da scheint die Wirklichkeit die Fiktion einzuholen.

Freitag, 24. Juli 2015

De lege ferenda - Von kommendem Recht

1. Ein Gedankenspiel
Wäre es vorstellbar, dass Flüchtlinge in dem Bundesland untergebracht werden müssen, wo sie erstmals deutschen Boden betreten? Den bayrischen Aufschrei möchte ich hören! Aber warum soll es dann sachgerecht sein, dass Flüchtlinge in Italien, Spanien und Griechenland bleiben sollen - dort, wo sie erstmals die EU-Grenzen überschritten haben? Das sog. Dublin-Abkommen, das diese Vereinbarung enthält, wird inzwischen ernsthaft in Frage gestellt, nicht zuletzt durch die deutsche Bundesregierung. Eine Neuregelung steht weit oben auf der europäischen Agenda, geographische Privilegien sind nicht mehr lange haltbar. - Ob das irgendwann auch für das Verhältnis zwischen Nord- und Südhalbkugel gilt? 

2. Höhere Zäune?
Natürlich wäre es wünschenswert, wenn es keine Fluchtgründe gäbe, gleich welcher Art. Natürlich wäre es sinnvoll, in den Herkunftsländern endlich wirksame Hilfsmaßnahmen einzuleiten. Aber das heißt für die wohlhabenderen Gesellschaften: Teilen, Abgeben, Verzichten. Zu befürchten ist: Dazu sind sie, sind wir erst bereit, wenn so viele Flüchtlinge kommen, dass solche Maßnahmen letztlich billiger sind als die Versorgung von Flüchtlingen hier.
So problematisch es ist, in der Politik mit Naturgesetzen zu argumentieren: Durch eine ungleiche Wohlstandsverteilung wird immer Druck aufgebaut, entsteht Spannung. Geopolitisch übrigens ebenso wie innerhalb einer Gesellsschaft.
Wer jetzt so vehement gegen die Flüchtlingsaufnahme argumentiert, muss sich fragen lassen, was für andere Maßnahmen er sich denn angesichts dieses Drucks vorstellt. Da gibt es eigentlich nur die militärische Option - höhere Zäune, stärkere Abwehr. Entwickeln wir uns zur Gated Society? Und würde sich damit der Druck verringern?

3. Kleine Fische
Jede entwicklungspolitische Strategie (Hilfe im Herkunftsland) will finanziert sein, siehe oben, und greift auch erst morgen oder übermorgen, während hier täglich neue Flüchtlinge eintreffen. Die von den Industrienationen leergefischten Gewässer vor den Küsten Somalias oder Westafrikas erholen sich nicht im Handumdrehen - sollen wir bis dahin jene Regionen mit unseren Fischkonserven ernähren? Warum sind die eigentlich so billig?

4. Entwicklungshilfe
Auf einen vielleicht interessanten Aspekt weist Thomas Bauer, Professor für empirische Wirtschaftsforschung an der RUB, in einem Interview mit der TAZ (19.6.20159 hin:  
Die Überweisungen von Migranten an ihre Familien sind für viele Entwicklungsländer von größter Bedeutung. Oft sind diese Zahlungen sogar wichtiger als die klassische Entwicklungshilfe. Es kommt natürlich darauf an, wie dieses Geld genutzt wird, ob das Geld aus Europa investiert wird, oder ob das Geld durch Konsum aufgebraucht wird. In diesem Sinn kann Migration aber auch eine Form der Entwicklungshilfe vor Ort sein.

5. Kommendes Recht? 
Quer durch die politischen Lager wird inzwischen diskutiert, ob das Asylrecht wirklich das geeignete Instrumentarium für den Umgang mit Flüchtlingen bietet. Eine Zuwanderung, das ist jetzt immer häufiger zu hören, erscheint im Blick auf  Demographie und Fachkräftemangel durchaus wünschenswert, die Bezeichnung 'Wirtschaftsflüchtlinge' kommt einem täglich ein Stück gestriger vor. 
'Wir können nicht alle aufnehmen.' - Nein, wahrscheinlich nicht, aber inzwischen geht es in der Debatte längst darum, wen genau 'wir' doch aufnehmen wollen, welche Kriterien dafür gelten sollen und wer deren Einhaltung feststellt und überprüft. Da liegt ein Wandel in der Luft. Ein neues Einwanderungsgesetz. Wäre es nicht wünschenswert, wenn er auch denen zugutekäme, die unter der jetzt noch geltenden Gesetzeslage hierhergekommen sind? Die diesen Wandel letztlich angestoßen haben?

6. Reems Tränen
Doch was vermögen Argumente gegen Gefühle? Jede Seite hält ihre Positionen wahrscheinlich für vernunftbegründet, sucht sich die dafür passenden Argumente und wirft den Gegnern Idealisierung bzw. Dämonisierung vor. Aber auf welche Seite sich jeder stellt - ob jetzt Mitmenschlichkeit, Mitgefühl und Menschenwürde den Ausschlag geben oder die Angst vor Überfremdung, vor ökonomischen Einbußen und gesellschaftlicher Instabiltät - das beruht selten auf rationalen Entscheidungen.
Veränderung geschieht wohl nur durch Begegnung, durch persönliches Kennenlernen, durch neue Erfahrung. Durch Berührung, auch durch die Tränen eines 14 jährigen Mädchens. Es kommt etwas in Bewegung, langsam zunächst und ganz individuell, gesellschaftlich dann und gesetzlich zuletzt, eines hoffentlich nicht mehr allzu fernen Tages.

Montag, 20. Juli 2015

NICHT IM TRAUM

Beim Sommerkonzert der Pullacher Musikschule hat eine Gruppe junger Flüchtlinge aus dem Senegal ein Lied, eine Art Sprechgesang vorgetragen, in dem ihre aktuellen Erfahrungen zum Ausdruck kommen. Geschrieben in Wolof von Alagie Jammeh - sei hier eine Nachdichtung versucht:

Nicht im Traum, nicht im Traum
wollen wir zurück nach Libyen,
nicht nur wir – so viele andere auch, 
niemals, niemals!

 So viele Länder im Krieg,
so viele Länder in Not,
so viele auf der Flucht.
Libyen, Syrien –
Wir beten für diese Länder,
wir beten für Frieden.
Darum dieses Lied.
Wir wollen euch sagen,
was hinter uns liegt.
Auch wenn wir hier sicher sind –
Was hinter uns liegt,
lässt uns nicht los.
Ihr Kinder aus Pullach,
ihr sollt wissen,
wie viel eure Eltern hier tun
für die Würde der Menschen,
für Achtung und Respekt.
So viele gute Leute –
Wir stehen zusammen!
Das alles zu singen fällt uns nicht leicht.
Doch wir tun was wir können,
um euch eines zu sagen,
immer wieder und wieder:
Wir sagen euch danke!

Alagie Jammeh war es auch, der beim Info-Abend zu den Pullacher Flüchtlingen (13.Juli 2015) geäußert hat: 'We are trying to be human beings again!'  Mehr dazu in einem Beitrag auf der Webseite der GRÜNEN in Pullach. Und hier wäre das Stück zu hören!

Montag, 13. Juli 2015

Welt-Wirtschaftsflüchtlinge

Es ist die heißeste Zeit des Tages, früher Nachmittag vor der Turnhalle der Hauptschule. Ich sitze mit 7 jungen Männern auf einer Bierbank. Jeder hat Stift und Papier dabei: Deutsch-Unterricht. Fast alle aus „meiner“ Gruppe sind gekommen, wie jedes Mal. Da ich auch Französisch spreche, hat es sich so ergeben, dass ich „die Franzosen“ unterrichte. Sie kommen aus Mali und dem Senegal. Es gibt ein Lehrbuch für Asylbewerber, aber ich habe mich mehr und mehr davon entfernt. Denn es ist für mich - wie auch für meine Schüler - viel interessanter, über das Gespräch und das, was uns bewegt, die Tür zur deutschen Sprache zu öffnen.
Ich staune, wie aufnahmefähig die meisten sind. Lauter wache Augen schauen mich an. Es gibt immer viele Fragen, und daraus spinne ich den Faden für den Unterricht. Alle schreiben eifrig mit.
Dieses Mal habe ich ein Arbeitsblatt vorbereitet mit Fragewörtern. Denn ich denke, es schadet nicht, wenn sie auf Fragen bei ihrer Anhörung ein wenig auf Deutsch antworten können. „Warum seid ihr nach Deutschland gekommen?“
Mit einem Mal verdunkeln sich die Mienen...

Neue Farben

Pullach hat neue Farben bekommen. Man findet sie überall: auf Parkbänken, auf der Straße, auf dem Fußballplatz, an der Isar und zuletzt auch auf der Sonnwendfeier.
100 Flüchtlinge aus 13 Nationen leben seit Pfingsten im Herzen unserer gepflegten, wohl situierten Gemeinde.
Ein ungewohntes Bild ist das. Gewöhnungsbedürftig.
Meinen Mann und mich trieb vor etwa 3 Wochen die Neugierde: Was sind das für Menschen? Können wir uns dorthin wagen? Halten wir so viel Fremdheit aus?
Wir haben uns getraut – und ...