Donnerstag, 29. Oktober 2015

Trübe Tassen

Morgens beim Friseur. Gesprächsthema Nummer eins: die Flüchtlinge. „Die Politik hat versagt, die Politik hat zu spät reagiert, die Politik hat die Bürger nicht informiert…“ – bis mir der Kragen platzt: Wer immer nur die Sportseiten liest, sollte die Gründe für die eigene Ahnungslosigkeit vielleicht erstmal anderswo suchen, bevor er ‚die Politik’ dafür verantwortlich macht. 
Wer ist denn ‚die Politik’? Es gibt inzwischen etliche Erklärungsversuche, warum so viele Menschen hier helfend tätig sind: Um als Land gut dazustehen vor der Welt, für das eigene Ego, um eine gefühlte historische Schuld wiedergutzumachen, aber auch als Selbstermächtigung, als Versuch, selbst ein politisch handelndes Subjekt zu werden, weit über das Stimmzettel-Kreuzchen hinaus. Letztlich also als Bestreben, nicht mehr alles zu delegieren, sondern selbst an Stelle ‚der Politik’ zu treten.
Am Abend lädt die Gemeinde die Helfer und Flüchtlingsbegleiter zu einem festlichen Essen ein. Gemischte Gefühle auf dem Weg dorthin: Sollen alle, die sich hier einsetzen oder eingesetzt haben, mit einer Geste abgespeist werden? Was früher der Wappenteller oder die Pullach-Tasse war, soll jetzt durch ein warmes Essen ersetzt werden? Dafür hat man es doch nun wirklich nicht gemacht.
Es kommt alles ganz anders. Viele sind hier versammelt, die voneinander gar nicht wussten, dass sie sich auf diesem Feld betätigen. Viele Flüchtlinge sind gekommen, nicht nur die kürzlich transferierten 'Turnhallen-Flüchtlinge', sondern auch die im Ort untergebrachten Familien, die man sonst kaum zu Gesicht bekommt. Einen glücklichen Abend lang sind die Fernsehbilder vom  Balkan in den Hintergrund getreten, für ein paar Stunden, so kommt es einem vor, lässt sich hier eine Zivil-Gesellschaft erahnen, die das politische Tun selbst in die Hand genommen hat. Für kurze Zeit ist eine Selbstvergewisserung spürbar: ‚Die Gemeinde’ ist keine ausgelagerte Instanz, ähnlich wie ‚die Politik’, nein – genau hier hat sich ‚Gemeinde’ konstituiert, eine Minderheit sicherlich, aber eine, die sich nicht mit Schuldzuweisungen aufhält und sich durch die ungewissen Erfolgsaussichten nicht von ihrem Engagement abhalten lässt.
Das alles mag sich auch wieder eintrüben, gewiss. Trotzdem: Danke für diese Einladung, die eine ermutigende Erfahrung ermöglichte und Gelegenheit bot, füreinander erkennbar zu werden!

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