Treten wir durch die Glastür der Turnhalle, eröffnet
sich eine andere Perspektive: Dort teilten sich nun fast 5 Monate lang zwischen
50 und 100 junge Männer einen einzigen Raum, ein paar wenige Duschen und
Toiletten. Durch zurechtgerückte Spinde, aufgetürmte Koffer und herunterhängende
Bettlaken haben sie versucht, sich einen Hauch von Privatsphäre zu schaffen.
Stellen wir uns das einmal vor! Fast alle sind jung und kräftig, aber haben
nichts zu tun, weil sie nicht arbeiten dürfen. Dadurch sind sie zum Teil
quälenden Erinnerungen ausgesetzt, die traurig, aber auch aggressiv machen
können. So versucht jeder, mit seiner Not zurechtzukommen. Der eine trinkt, der
andere hört laut Musik, der dritte kommt auf die Idee, nachts mit dem Skateboard
durch die Halle zu fahren. Jedes Geräusch ist für alle hörbar. Keiner findet
Nachtruhe. Bei Auseinandersetzungen gibt es keine gemeinsame
“Flüchtlingssprache“. Ist das nicht zum Verrücktwerden?
Da nimmt es nicht Wunder, dass es schon ein paar
„Revolten“ gab: „Wir halten es hier nicht mehr aus!“
Tatsächlich aber ist es das größere Wunder, dass nie
etwas Schwerwiegendes geschehen ist. „Wir alle sind hier Freunde, egal aus
welchem Land wir kommen“, so ist öfters zu hören. Was für eine soziale Leistung!
Die Geduldsfäden werden scheinbar immer wieder neu geknüpft.
Nun geht diese Periode zu Ende. Die Verlegung in die
Traglufthalle in Oberhaching steht unmittelbar bevor. Was für manche Pullacher
Bürger Erleichterung bedeuten dürfte, ist für andere ein schmerzhafter Abschied.
Man höre: Unsere Flüchtlinge wollen hier bleiben, sie lieben Pullach! Sie haben
angefangen, Kontakte zu knüpfen, Freundschaften zu pflegen, Vertrauen zu
gewinnen und kleine Wurzeln zu schlagen. „Hier wurden wir seit langem zum ersten
Mal als Menschen gesehen.“ „Wir haben Pullach adoptiert.“ „Wir wollen jetzt
nicht wieder bei Null anfangen.“ „Wir sind verzweifelt.“
Denn ob sie in der Traglufthalle die versprochene
Verbesserung der Wohnqualität erwartet, ist fraglich. Sechs Personen werden in
jeweils einer „Box“ untergebracht sein – auf engstem Raum und weiterhin ohne
akustische Trennung. Die Lage in der Gewerbezone von Oberhaching dürfte zudem
das Hineinwachsen in einen neuen Lebensmittelpunkt sehr erschweren. „Es fühlt
sich an wie Gefängnis“, so haben sich Mitglieder des Helferkreises nach einer
Besichtigung geäußert.
Der Geduldsfaden ist äußerst angespannt. Trotzdem sehen
die meisten Flüchtlinge ein, dass ihnen nichts anderes bleibt als sich in die
Sachzwänge und ihr Schicksal zu fügen.
Jedoch nicht nur ihnen fällt der bevorstehende Abschied
schwer. Da sind die zahlreichen unermüdlichen Helfer, die Deutschunterricht
gegeben, Ausflüge und Feste organisiert, Arbeit, Schulplätze und Sprachkurse
vermittelt, Sportbegegnungen ermöglicht, Kleiderspenden besorgt, Arzt- und
Amtsbesuche begleitet, nach Hause eingeladen oder einfach nur zugehört haben.
Dadurch konnte vielleicht Schlimmes verhütet werden, denn einige der
Turnhallenbewohner hatten in den ersten Wochen Suizidgedanken.
Ja, uns allen war viel von dem abverlangt, was
eigentlich Aufgabe des Staates sein sollte und in anderen Bundesländern auch
schon von staatlichen Stellen übernommen wird.
Aber mehr: Wir haben unsere Schützlinge aus tiefstem
Herzen lieb gewonnen! Der Transfer nach Oberhaching fühlt sich an wie eine
kleine „Abschiebung“ und stimmt uns traurig. Das bange Warten auf den konkreten
Termin, die vergeblichen Versuche, doch noch eine Unterkunftsalternative in
Pullach zu finden, all das hat auch unsere Geduldsfäden zum Zerreißen
strapaziert. Wir sind erschöpft, und es ist bitter, sich nun so völlig machtlos
zu fühlen.
Wie alles weitergeht? Neue Flüchtlinge werden nach
Pullach kommen. Die menschliche Herausforderung wird nicht nachlassen. Für die
meisten von uns Helfern steht fest: Menschen sind nicht austauschbar. Wir halten
es für notwendig, „unsere“ Jungs auch in Oberhaching weiter zu begleiten, soweit
das möglich ist. Uns in selber Weise den Neuankömmlingen zu widmen, wird uns
schwer fallen.
Liebe Pullacherinnen und Pullacher, Sie können helfen,
indem Sie eventuell freistehenden Wohnraum dem Landratsamt zur Anmietung zur
Verfügung stellen. Dann könnten unsere schon gut integrierten Flüchtlinge in ihr
geliebtes Pullach zurückkehren.
Denn es wird nicht ausbleiben, dass wir etwas enger
zusammenrücken und uns an Fremde gewöhnen müssen. Der Strom wird nicht abreißen,
solange Deutschland Waffen in alle Welt liefert, mit denen die Häuser der
späteren Flüchtlinge in Schutt und Asche geschossen werden und solange
Klimawandel und Handelsabkommen die wirtschaftlichen
Strukturen in den Herkunftsländern so zerstören, dass Menschen es vorziehen,
ihre Heimat zu verlassen und durch die Wüste Richtung Europa zu irren.
Wir sind eine Welt, in der alles mit allem
zusammenhängt. Bertolt Brecht hat es 1934 so formuliert:
Reicher Mann und armer
Mann
standen da und sah`n sich
an.
Und der Arme sagte
bleich:
„Wär ich nicht arm, wärst du nicht
reich.“
Wappnen wir uns also mit Geduld, lassen wir uns weiter von unserem Mitgefühl leiten! Dann
schaffen wir das.
Hedwig Rost
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